Rekonstruktion menschlichen Verhaltens im evolutionären Entwicklungszeitraum

Die Rekonstruktion des menschlichen Verhaltens im Evolutionszeitraum ist mit erheblichen methodischen Schwierigkeiten verbunden. Es ist unerläßlich sich über einige elementare, evolutionstheoretische Aspekte Klarheit zu verschaffen, bevor man an diese Aufgabe herantritt:

- Menschliches Verhalten wird nicht nur über biologische Anpassungsleistungen gesteuert.
Um auf der Ebene der sogenannten “letzten Ursachen” verstehen zu können, warum ein beobachteter Funktionskomplex (Z.B. eine Verhaltensweise) entstanden ist, muß man sich anschauen, wer oder was die Entstehung dieses Funktionskomplexes bewirkt hat - man muß nach den Quellen funktionaler Komplexität suchen.
Die bekanntense und wissenschaftlich etablierteste derartige Quelle ist die genbasierte organische Evolution. Eine zweite Quelle, die für das menschliche Verhalten sicher ebenfalls eine bedeutende Rolle spielt, ist die memetische Evolution, wie sie Richard Dawkins in Analogie zur organischen Evolution angedacht hat. Die memetische Evolution stellt meines Erachtens aber nur eine von mindestens zwei Quellen funktionaler Komplexität dar, die zur kulturellen Evolution beitragen. Die andere - beim Menschen gelegentlich sehr ergiebige - Quelle funktionaler Komplexität ist das schöpferische menschliche Gehirn. Dabei ist die Vorstellung zurückzuweisen, dass es sich bei diesem Gehirn um so etwas wie eine Darwin-Maschine handelt (Kreatives Denken nutzt die hoch entwickelten, kognitiven Fähigkeiten des Menschen und geht weit über das Lernen durch Versuch und Irrtum hinaus. Im Gegensatz zu einer Darwin-Maschine sind Menschen im Prinzip sogar in der Lage voraus zu denken). Mit dem meschlichen Gehirn gehört tatsächlich ein personifizierter “Schöpfer” zu den Quellen funktionaler Komplexität, während es sich bei den anderen beiden Quellen lediglich um Anreicherungsprozesse handelt. Nebenbei bemerkt bedeutet die Zugehörigkeit des menschlichen Gehirns zum illustren Kreis der Quellen funktionaler Komplexität, dass so etwas wie freier Wille zumindest im Prinzip möglich ist. Unter Nutzung seines Gehirns ist jeder Mensch in der Lage, sich sowohl über genetische als auch über kulturelle Vorgaben hinweg zu setzen. Für das Verhalten des Einzelnen kann sein Gehirn durchaus zur wichtigsten Quelle funktionaler Komplexität werden, tatsächlich genutzt wird diese in der Aufklärung propagierte Option jedoch nur von wenigen. Außerdem sind Verhaltensäußerungen, die sich auf einzelne Individuen beschränken global betrachtet nur von geringer Bedeutung.
Insgesamt haben wir es beim menschlichen Verhalten mit mindestens drei leistungsfähigen Quellen funktionaler Komplexität zu tun und nur bei einer davon können wir voraussetzen, daß ihre Erzeugnisse im Dienste der genetischen Fitneßmaximierung stehen. Dies bedeutet, dass menschliches Verhalten den Erklärungsrahmen des soziobiologischen Paradigmas im Prinzip sprengen kann. Evolutionstheoretisch stellt menschliches Verhalten eine enorme Herausforderung dar und es kann keine Rede davon sein, dass die theoretischen Grundlagen zur Interpretation menschlichen Verhaltens auf der Ebene der letzten Ursachen bereits sauber herausgearbeitet worden sind. Für die Rekonstruktion menschlichen Verhaltens im biologischen Entwicklungszeitraum bedeutet dies, daß die archäologischen und paläontologischen Belege nicht in einen vorhandenen Erklärungsrahmen eingeordnet werden können. Vielmehr war ich bereits vor 10 Jahren bei der Entwicklung des SWAK-Modells gezwungen diesen Rahmen selbst mit zu entwickeln. Die grundsätzlichen, evolutionstheoretischen Probleme bei der Behandlung menschlichen Verhaltens sind vermutlich die wichtigste Ursache dafür, dass die Erforschung des Prozesses der Menschwerdung sich so schwierig gestaltet. Der Mensch nimmt im Tierreich als Geistes- und vor allem als Kulturwesen eine evolutionstheoretische Sonderrolle ein.

- Das Verhalten unserer nächsten tierischen Verwandten passt noch recht gut ins soziobiologische Paradigma. Kulturelle Überlieferungen spielen zwar auch bei Schimpansen eine gewisse Rolle, scheinen jedoch zu keinen interpretatorischen Komplikationen zu führen. Dies ist vermutlich zu einem bedeutenden Teil damit zu erklären, dass Gene und Meme über weite Strecken gemeinsame “Ziele” haben können. Wenn kulturelle Informationen z.B. überwiegend von den Müttern auf ihre Kinder übertragen werden, dann sitzen sie - um mit Richard Dawkins zu sprechen - “im gleichen Boot” mit der Mitochondrien-DNA. Sie werden sich um so besser in der Population ausbreiten, je mehr Töchter die betreffende Mutter hat. So lange, wie kulturelle Informationen parallel zu den genetischen Informationen von Eltern auf Kinder weitergegeben werden, kommt es kaum zu “Interessenskonflikten” zwischen Genen und Memen eines Individuums. Memetische Selektion führt unter solchen Bedingungen zu Verhaltensmerkmalen, die die genetische Fitness der Individuen fördern und zumindestens oberflächlich keine Widersprüche zum soziobiologischen Paradigma generieren. Dies könnte nebenbei bemerkt im Rahmen der organischen Evolution zu Anpassungen geführt haben, die dafür sorgen, dass die kulturelle Evolution in der Regel nicht außer Kontrolle Gerät (analog zur Immunabwehr, die Viren bekämpft). Sehr hilfreich wäre hier z.B., wenn sich die betreffenden Individuen vor allem im Kindesalter kulturell prägen liessen, als Erwachsene aber für neue “Moden” resistent wären. Das würde dafür sorgen, dass kulturelle Informationen im Wesentlichen parallel zur genetischen Information von Eltern auf Kinder weitergegeben würden, sie würden dann ähnlichen Selektionskriterien unterliegen, wie die Gene und Anpassungen hervorbringen, die auch den Genen nützen. Bei den Schimpansen scheinen die Gene das Ruder noch in der Hand zu haben.

- Da Meme ähnlich wie Viren im Prinzip in der Lage sind sich unabhängig von der Fortpflanzung ihres Wirtes auszubreiten stellen sie aus genetischer Sicht ein bedeutendes Gefahrenpotential dar. Es stellt sich damit grundsätzlich die Frage, ob es aus genetischer Sicht überhaupt eine “gute Idee” ist ausgesprochene Kulturwesen hervor zu bringen. Anders ausgedrückt stellt sich die Frage, ob das heutige ”Kulturwesen” Mensch aus biologischer Sicht eine Errungenschaft oder ein “Betriebsunfall” ist. Die Armed Ape Theory plädiert angesichts des durch archäologische Funde belegten, zeitlichen Verlaufs der kulturellen Evolution für einen “Betriebsunfall” beim Übergang zum modernen Verhalten des modernen Menschen. Auch die Einmaligkeit dieses Prozesses in der Natur spricht dafür, daß Kulturfähigkeit in der Regel nicht positiv selektiert sondern eher vermieden wird. Im Falle des Menschen ergab sich die Kulturfähigkeit der Armed Ape Theory zufolge im Wesentlichen als Nebenprodukt der Anpassungen an das Werfen und das Sprechen, wobei die Sprachentwicklung ihrerseits keine Anpassung an die Kulturfähigkeit darstellte, sondern lediglich eine durch die Nutzung einer Fernwaffe ausgelöste Folgeanpassung. Dies erklärt den anhaltenden Streit zwischen Soziologen, die sich mit dem menschlichen Verhalten in der Praxis beschäftigen, und denjenigen Soziobiologen, die darauf bestehen, menschliches Verhalten auf evolutionstheoretischer Ebene ebenso zu behandeln, wie das Verhalten anderer Lebewesen. Die Konflikte beruhen darauf, dass menschliches Verhalten heute den soziobiologischen Erklärungsrahmen tatsächlich in aller Deutlichkeit sprengt. Eine saubere Erklärung menschlichen Verhaltens auf evolutionstheoretischer Ebene erfordert die Berücksichtigung und das Verständnis kultureller Evolution. Für das Verständnis angeborener Mechanismen menschlichen Verhaltens kann man es im Prinzip mit einem Evolutionspsychologischen Ansatz versuchen, der davon ausgeht, dass die menschliche Psyche in der Vergangenheit an eine ganz andere Umwelt angepasst wurde. Hierbei ist jedoch entscheidend mit einem realistischen Ansatz für die angenommen evolutionären Entwicklungsbedingungen zu operieren. An dieser Stelle haben Evolutionspsychologen meines Erachtens versagt, den:

- Alle existierenden menschlichen Populationen leiten sich von einer kleinen, wahrscheinlich afrikanischen Population vor ca. 70 000 Jahren ab. Vergleichende Untersuchungen an rezenten Populationen können zwar genutzt werden um das Verhaltensrepertoire dieser Vorfahren zu rekonstruieren, sagen jedoch nichts darüber aus wann und warum sogenannte menschliche Universalien entstanden sind, die wir vermutlich von dieser Population geerbt haben. In der Regel könnte es sich dabei ebenso gut um kulturelle Neuerungen vor 70 000 Jahren handeln, wie um Eigenschaften, die das Verhalten unserer Vorfahren über den gesamten Verlauf der letzten 2 Millionen Jahre bestimmt haben, in denen sich das menschliche Gehirnwachstum abgespielt hat. Dummerweise reichen die Anfänge der vergleichenden Verhaltensforschung weit zurück in Zeiten, in denen Wissenschaftler weltweit überzeugt waren, dass die Wurzeln lokaler Populationen sehr weit zurück reichen. Vor hundert Jahren hielten europäische Wissenschaftler ihre eigene Rasse für so deutlich überlegen z.B. im Vergleich zu den Inuit, dass sie die Trennung der Entwicklungslinien vor ca. 3 Millionen Jahren veranschlagten. Die Verfechter der multiregionalen Entwicklung des modernen Menschen haben auch in der Folgezeit dafür gesorgt, dass ähnliche Vorstellungen in der wissenschaftlichen Diskussion nur sehr langsam an Bedeutung verloren. Dies führte unter Verhaltensforschern zu der Überzeugung mit vergleichenden Untersuchungen an Naturvölkern ein Mittel an der Hand zu haben, um einen Einblick in die Lebensweise unserer Vorfahren zu gewinnen, der den gesamten Zeitraum der Gehirnentwicklung abdeckt. Auf dieser - wie wir heute wissen - nicht tragfähigen theoretischen Grundlage haben inzwischen Generationen von Wissenschaftlern ihr Lebenswerk aufgebaut und enorme “Altlasten” angehäuft.
Auch die moderne Disziplin der Evolutionspsychologie hat entsprechende Grundannahmen in ihr Paradigma einfach übernommen. Die gesamte Altsteinzeit wird von vielen Evolutionspsychologen als eine Einheit behandelt und erst der Übergang zum Neolithikum als entscheidende Bruchlinie im menschlichen Verhalten. DasVerhalten von Jäger- und Sammlergruppen, die den Übergang zum Ackerbau noch nicht vollzogen haben wird so zum Modell für die Lebensweise unserer Vorfahren im gesamten Zeitraum der menschlichen Gehirnexpansion. Daran orientieren sich dann die Vorstellungen in welchem evolutionären Umfeld sich die menschliche Psyche entwickelt haben soll - woran wir also biologisch angepasst sind (”Mammutjäger in der Ubahn”). Das Alles entbehrt vollkommen der Grundlage, wenn wir davon ausgehen, dass alle heute lebenden Menschen im Verlauf der letzten 100 000 Jahren aus einer lokalen, wahrscheinlich afrikanischen Population hervorgegangen sind. Und diese Annahmen sind mehr als nur nicht begründet - sie sind mit Sicherheit falsch, weil die archäologischen Befunde auf weitere, dramatische Veränderungen im menschlichen Verhalten beim Übergang  zum modernen Verhalten des modernen Menschen hin weisen. Das Verhalten von Jägern und Sammlern ist in diesem Kontext als modern einzustufen und ist daher mit Sicherheit deutlich anders, als das Verhalten unserer Vorfahren im eigentlichen evolutionären Entwicklungszeitraum des menschlichen Gehirns zwischen 2,5 Millionen und 70 000 Jahren vor unserer Zeit.
Da Merkmale wie Religiosität, bei deren Entstehung memetische Selektion eine große Rolle gespielt haben dürfte, zu den Universalien menschlichen Verhaltens zählen, kann man getrost davon ausgehen, dass zumindest bei dem modernen Verhalten des modernen Menschen genetische Fitnessmaximierung nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Das ist ein weiterer Grund den klassischen evolutionspsychologischen Ansatz zurückzuweisen, der davon ausgeht, dass das Leben als Jäger und Sammler (wie man es bei Naturvölkern beobachtet hat) als biologische Nische des Menschen zu interpretieren sei. Alle heute existierende Menschen sind ausgesprochene Kulturwesen und das schließt Jäger- und Sammlergesellschaften ausdrücklich mit ein.

Ich habe vor 10 Jahren bei dem Versuch im ZdW das Verhalten unserer Vorfahren im biologischen Entwicklungszeitraum zu rekonstruieren bewußt darauf verzichtet nach Belegen zu suchen, die in den Bereich des Verhaltens rezenter Menschen gehören. Damit habe ich eine Konsequenz aus der oben dargelegten Problematik gezogen und einen deutlichen Bruch zur wissenschaftlichen Tradition vollzogen. In dieser Hinsicht sehe ich mich als Pionier, denn dieser Bruch ist unerlässlich und findet allmählich auch in der wissenschaftlichen Diskussion statt. Die Rekonstruktion des Verhaltens unserer Vorfahren beruhte im SWAK-Modell und tut es auch weiterhin in der Armed Ape Theory, auf Interpretationen des Körperbaus - (der aus Fossilienfunden bekannt ist), vergleichenden Untersuchungen zum Verhalten von Schimpansen, archäologischen Funden und ökologischen Erwägungen. Natürlich standen mir damit weniger Daten zur Verfügung - aber es ist wesentlich besser beim Theorieenwurf mit weniger Daten arbeiten zu müssen, als von falschen Voraussetzungen auszugehen.

Anwendungsbeispiel Altruismus:

- Das Altruismus-Problem findet in der ArmAT seine Lösung darin, dass Menschen sich in genetischer Hinsicht tatsächlich altruistisch verhalten können, wenn nicht die Gene, sondern die Meme bei der Verhaltenssteuerung das letzte Wort haben. Für Verwirrung sorgt dabei, dass die einzelnen Merkmale menschlichen Verhaltens durchaus tiefe evolutionäre Wurzeln haben und analoge Merkmale auch für das fitnessoptimierte Verhalten anderer Primaten typisch sein können. Die Gene spielen bei der Steuerung unseres Verhaltens auch immer noch eine bedeutende Rolle - aber sie haben nicht mehr das letzte Wort. Es ist eher so wie bei dem Wirtsvogel, der die Eier eines Kuckucks ausbrütet. Die genetisch fixierten Verhaltensweisen, die er dabei an den Tag legt wurden ursprünglich als Werkzeuge zur Fitnessoptimierung entwickelt. Deren Anwendung in diesem Spezialfall machen aber den Vogel zu einem Dienstleister für den Kuckuck. Der Vogel verhält sich tatsächlich altruistisch dem Kuckuck gegenüber. Er zahlt drauf, während der Kuckuck profitiert. Die letzte Ursache für dieses Verhalten ist jedoch nicht mehr im Genom des Wirtsvogels zu suchen, sondern im Genom des Kuckucks, der sich darauf spezialisiert hat die Anpassungsleistungen von Wirtsvögeln für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Die Instrumentalisierung biologischer Anpassungsleistungen des Menschen durch die kulturelle Evolution läßt den Eindruck entstehen, als sei der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen. Die Wirklichkeit sieht der ArmAT zufolge anders aus. Unsere Entwicklung zu ausgesprochenen Kulturwesen war keine Anpassungsleistung. Vielmehr haben wir als Nebenprodukt unserer speziellen Nischenanpassung ein hohes Niveau an Kulturfähigkeit entwickelt, das (vermutlich in einer speziellen Umgebung) zur Entstehung memetischer Überlieferungen geführt hat, die in der Lage waren die Führungsrolle bei der Verhaltenssteuerung an sich zu reissen.
Die Zusammenarbeit in grossen Gruppenverbänden basiert dabei der ArmAT zufolge evolutionstheoretisch in erster Linie auf memetischem Nepotismus - anders ausgedrückt handelt es sich um die Kooperation von “Brüdern im Geiste” die damit zur optimierten Ausbreitung ihrer gemeinsamen Meme beitragen. Hinter genetischem Altruismus verbirgt sich beim Menschen in der Regel memetischer Egoismus. Der katholische Priester verzichtet z.B. auf die Weitertgabe seiner Gene zugunsten der Weitergabe seiner religiösen Überzeugungen.

Anwendungsbeispiel “böse Schwiegermutter”:

Unter Berücksichtigung der oben skizzierten, theoretischen Erwägungen gelangte ich im ZdW vor 10 Jahren zu der Ansicht, dass menschliche Gruppen im eigentlichen evolutionären Entwicklungszeitraum schimpansenähnlich organisiert waren - sie waren “multimaskulin”. Das heißt, dass die Gruppen auf der Kooperation nah verwandter Männer basierten, die in ihrer Geburtsgruppe verblieben, während zumindest ein Teil der Frauen im Zeitraum zwischen der Pubertät und dem ersten Kind die Geburtsgruppe verließ. In multimaskulinen Verbänden konkurrieren die Männchen um den Zugang zu den Weibchen, daher kann die Vaterschaft des Einzelnen nicht als gesichert gelten. Die Vaterrolle ist daher unbesetzt und infolge dessen auch die Schwiegermutterrolle. Ältere Weibchen haben keinen besonderen Bezug zu den Enkeln, die von ihren Söhnen abstammen. Es kommt aber in den Fällen, in denen die Tochter in der Geburtsgruppe verbleibt sehr wohl zur Unterstützung dieser Töchter bei der Aufzucht derer Kinder. Die Schimpansen-Oma ist psychisch nur als Oma mütterlicherseits existent.
Im Falle des Menschen wurde schon seit längerem spekuliert, dass es sich bei der weiblichen Menopause und der langen, danach verbleibenden Lebensspanne, zum Teil um eine Anpassung an die Großmutterrolle handelt. Die Argumentation unterstellt, dass ältere Frauen auf die Geburt weiterer eigener Kinder “verzichteten” um statt dessen als “Helfer am Nest” bei der Aufzucht der Enkel noch einen Beitrag zum eigenen Reproduktionserfolg zu leisten. Die Strategie ergibt Sinn, weil beim Menschen die Kinder sehr lange abhängig sind. Das Investment einer alten Frau in eigene Kinder führt aber zum Totalverlust, wenn sie stirbt, bevor das Kind “aus dem Gröbsten raus” ist. Bei einem Enkelkind geht das Investment dagegen im Falle ihres Todes nicht verloren.
Eckard Voland hat - einem soziobiologischen Ansatz folgend - anhand von Eintragungen in Kirchenregistern versucht nachzuweisen, dass Enkel in geschichtlichen Zeiträumen tatsächlich von der Anwesenheit einer Großmutter im elterlichen Haushalt profitierten. Er verglich drei Kategorien von Haushalten hinsichtlich ihres Reproduktionserfolgs. Haushalte ohne Großmutter, Haushalte in denen auch die Mutter des Mannes lebte und Haushalte in denen die Mutter der Frau lebte. Letztere schnitten am besten ab und zogen die meisten Enkel auf. Die Haushalte, in denen die Mutter des Mannes lebte, schnitten dagegen am schlechtesten ab, obwohl man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen konnte, dass die Kinder tatsächlich ihre Enkel waren. Hier förderte die Oma anscheinend nicht die Aufzucht ihrer Enkelkinder, sondern stand ihr sogar im Wege! Dieser Befund, der nach dem Erscheinen des ZdW veröffentlicht wurde, erinnert an das alte Klischee der bösen Schwiegermutter, an dem beim Menschen unterm Strich wohl tatsächlich was dran ist. Soziobiologisch läßt sich dieser Sachverhalt nicht erklären und verweist daher darauf, dass das menschliche Verhalten die Grenzen des soziobiologischen Paradigmas sprengt. Dafür passt er aber hervorragend zu der oben dargelegten Annahme, dass menschliche Verbände in dem Zeitraum, in dem unsere Psyche evolutionär geprägt wurde, schimpansenähnlich strukturiert waren. Schimpansenweibchen unterstützen neu zugewanderte Weibchen nicht bei der Aufzucht der eigenen Enkel (weil die Vaterschaft ihrer Söhne nicht gesichert ist) sondern behandeln sie als Konkurrentinnen um die verfügbaren Ressourcen, die sie lieber für sich und die eigenen Töchter haben würden. Ohne dies zu wollen, hat Eckard Voland hier einen wertvollen Beleg für die ArmAT und die bereits im ZdW vor 10 Jahren gewählte Vorgehensweise geliefert.

Anwendungsbeispiel Religion:

Manchen Verhaltensäußerungen sieht man ihren Ursprung förmlich an. So leitet sich die gesellschaftliche Funktionalität religiöser Überlieferung sicherlich überwiegend aus memetischer Evolution ab. Bei markanten religiösen Wendepunkten spielte auch immer wieder das schöpferische Gehirn einzelner Menschen eine herausragende Rolle (Christus, Buddha, Marx, Mohammed). Derartige kreative Explosionen haben jedoch nur dann langfristigen Einfluß auf die kulturelle Evolution, wenn sie nach ihrer Entstehung auch memetisch erfolgreich sind. Dies ist eine entscheidende Schwäche der Aufklärung. Eine Population intelligenter Individualisten, deren wichtigste gemeinsame, kulturell überlieferte Überzeugung darin besteht, kulturellen Glaubenssätzen zu mißtrauen, hat kulturell gut organisierten Horden von Menschen, die sich darin einig sind, ihren Verstand nicht über die Maßen zu strapazieren wenig entgegenzusetzen. Das Wiedererstarken religiöser Bewegungen beruht heute nicht auf geistigen Höchstleistungen, sondern auf der hohen Bedeutung memetischer Evolution für den Verlauf der kulturellen Entwicklung. Intellektuell betrachtet ist Gott auch heute noch tot und es spricht wenig für seine Wiederauferstehung - gesellschaftlich dagegen ist er quicklebendig und sogar noch auf dem Vormarsch.

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