Warum die Neandertaler ausstarben

Diesen Titel hat ein angeblicher Übersichtsartikel von Kate Wong im aktuellen Spektrum der Wissenschaft (Heft 11/2009).

Von “angeblich” spreche ich, weil der beschränkte Blickwinkel, der fehlende Ausblick über den engen europäischen Tellerrand hinaus ein herausragendes Merkmal dieses Artikels ist. Hier beschäftigt sich Kate Wong mit dem Verschwinden der Neandertaler im Zeitraum irgendwo zwischen 60 000 und 20 000 Jahren vor unserer Zeit. Dass der aus Afrika stammende moderne Mensch dabei eine Rolle gespielt haben könnte wird zwar diskutiert, völlig übergangen wird jedoch der Tatbestand, dass im leicht erweiterten Zeitraum zwischen 70 000 und 12 000 Jahren vor unserer Zeit nicht nur die Nachkommenlinien der Neandertaler aus der genetischen Überlieferung der Menschheit getilgt wurden, sondern auch nahezu alle anderen! Wir stammen alle wahrscheinlich von einer lokalen, afrikanischen Population vor ca. 70 000 Jahren ab, die lediglich etwa 10 000 Individuen umfaßte.

Nicht nur die Neandertaler scheinen keinen Beitrag zum Erbgut der heutigen Weltbevölkerung geleistet zu haben, das Gleiche trifft auch auf die meisten anatomisch modernen Menschen zu, die vor 70 000 Jahren gelebt haben und deren Zahl sicher weit über die 10 000 Individuen hinaus ging, deren Nachkommen wir sind. Die nächsten ausgestorbenen Verwandten im Stammbaum des Menschen sind wahrscheinlich gar nicht - wie in dem Artikel behauptet - die Neandertaler, sondern die anderen Populationen des Homo sapiens, die von unseren Vorfahren in Afrika ebenso gründlich abgelöst wurden, wie die Neandertaler in Europa. Außerdem sind auch die genetischen Linien aller archaischen asiatischen Populationen gekappt worden - vom späten asiatischen Homo erectus bis hin zum inzwischen legendären Homo floresiensis. Macht es da wirklich Sinn zu vermuten, dass bei jeder lokalen Restpopulation der Neandertaler eine andere Kombination von Ursachen den letzten Ausschlag für deren Aussterben gab?

Mehr als 99% aller Menschen, die vor 70 000 Jahren gelebt haben, haben eines gemeinsam - ihr Erbgut ist aus dem menschlichen Genpool verschwunden. Dies geschah naturgemäß an jedem einzelnen Ort der damals von Menschen bewohnten Welt unter anderen, lokalen Bedingungen. Dessen ungeachtert war dieser Vorgang ein globales Phänomen das nach Ursachen verlangt, die global zur Wirkung gelangen konnten.

Hat wirklich der Zufall den Weg frei gemacht für den Siegeszug unserer Vorfahren? Wurden die afrikanischen Konkurrenten und die Hobbits durch Vulkanausbrüche hinweggefegt und anschliessend durch unsere Vorfahren ersetzt? Wurden in der Zwischenzeit rein zufällig die Neandertaler durch Klimaschwankungen, Krankheiten und Inzucht dezimiert um gleich anschliessend durch unsere Vorfahren ersetzt werden zu können, ohne dass sich diese dabei irgendwie an ihren nahen Verwandten versündigen mussten? Und welche Naturkatastrophe könnte für den späten Homo erectus Asiens in Frage kommen - vielleicht die Sintflut?

Ich für meinen Teil bleibe bei der von mir 1999 formulierten Hypothese, dass bei unseren Vorfahren vor ca. 70 000 Jahren eine kulturelle Revolution stattgefunden hat, mit tiefgreifenden Verhaltensänderungen, die unter Anderem auch die Reproduktionsstrategien betrafen. Ähnlich wie später im Neolithikum initiierten kulturelle Verhaltensänderungen einen langanhaltenden Verdrängungsprozess. Allerdings war die kulturelle Revolution vor 70 000 Jahren viel wichtiger für das menschliche Verhalten. Die Veränderungen waren grundsätzlicher und tiefgreifender. Aus evolutionstheoretischer Sicht büßte damals die genetische Evolution ihren Führungsanspruch bei der Gestaltung des menschlichen Verhaltens ein. An ihre Stelle trat die kulturelle Evolution (siehe ZdW 1999).

Da kulturelle Informationen nicht nur von Eltern auf ihre Kinder übertragen werden können, sondern auch unabhängig von den Abstammungslinien, kann die memetische Verwandtenselektion prinzipiell eine wesentlich höhere Reichweite entwickeln, als die genetische (insbesondere bei Menschen mit ihrer geringen Reproduktionsrate). Ein entscheidender Faktor ist hierbei, wie ich bereits im ZdW betont habe, die Gruppengröße. In einer größeren Gruppe sind die Mitglieder zwangsläufig genetisch weniger nah miteinander verwandt. Memetisch trifft dies jedoch nicht automatisch ebenfalls zu. Mit zunehmender Gruppengröße kann es daher zunehmend zu einer Divergenz genetischer und memetischer Interessen kommen. Während die Meme bei ihrer Ausbreitung von einer engen Kooperation aller Gruppenmitglieder mit der gleichen kulturellen Überlieferung profitieren können, ist es aus genetischer Sicht einzelner Gruppenmitglieder günstiger den eigenen Fortpflanzungserfolg insbesondere auf Kosten nicht verwandter Gruppenmitglieder zu steigern. Mit zunehmender Gruppengröße und der damit einhergehenden, im Durchschnitt geringeren genetischen Verwandtschaft kommt es beim Menschen daher automatisch zu einem sich zuspitzenden Konflikt zwischen genetischen und memetischen Interessen.

Für die Größe eines Primatenverbandes scheinen die Anforderungen bei der Nahrungssuche eine entscheidende Rolle zu spielen. Vermutlich gab es im Evolutionszeitraum des Menschen keine Zielkonflikte zwischen Genen und Memen, weil die Gruppengröße grundsätzlich mit Rücksicht auf die Erfordernisse bei der Nahrungssuche im unterkritischen Bereich blieb. Dies hat sich dann wohl an der afrikanischen Ostküste infolge der Nutzung mariner Nahrungsressourcen geändert. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte an einzelnen nahrungstechnisch besonders ergiebigen Küstenabschnitten kam es auch zur Entwicklung der bis dahin größten menschlichen Gruppenverbände mit den ausgeprägtesten Zielkonflikten zwischen kultureller und organischer Evolution. Es entstanden Hot Spots der kulturellen Evolution, in denen fleißig mit kulturellen Überlieferungen herumexperimentiert wurde, die zur Stabilisierung immer größerer Gruppenverbände führen konnten - in der Regel auf Kosten der genetischen Fitnessmaximierung einzelner Gruppenmitglieder. Durchgesetzt hat sich am Ende eine lokale, kulturelle Tradition, zu deren kulturellen Innovationen wahrscheinlich der Schamanismus und die Ehe gehörten. Mit der Einführung der lebenslangen Zuordnung von Sexualpartnern wurde ein entscheidender kultureller Beitrag zur Stabilisierung größerer Gruppenverbände geleistet. Die gesellschaftliche Sprengkraft sexuell motivierter Konflikte wurde verringert, indem festgelegt wurde, für wen die Gruppenmitglieder im Konfliktfall Partei zu ergreifen hatten. Entscheidend aus kultureller Sicht war nicht, daß es keine Ehebrüche gab, sondern, daß daraus keine Konflikte erwuchsen, die die Gruppe als Ganzes gefährden konnten. Die Ehebrecher wissen, daß sie etwas Verbotenes tun und verhindern Konflikte dadurch, daß sie es heimlich tun. Werden sie erwischt, dann ist die Schuldfrage von vorn herein klar und das gesellschaftliche Problem kann durch Bestrafung aus der Welt geschafft werden - in der Regel ohne daß die nahen Verwandten der Sünder deren Partei ergreifen und den Konflikt damit eskalieren lassen.

Nachdem die kulturellen Anpassungsleistungen zur Stabilisierung großer Gruppenverbände unter optimalen Bedingungen entstanden waren, konnten sie von unseren Vorfahren mit der Zeit auch auf andere Lebensräume übertragen werden, in die sie vordrangen. Als Jäger und Sammler mußten sie sich dann halt regelmäßig treffen, um (unter Anderem durch Austausch von Frauen) die Existenz des Stammesverbandes zu gewährleisten. Anschliessend zerfielen sie wieder in kleinere Einheiten, die der Nutzung ihrer Ressourcen angemessener waren. Was jedoch blieb, war die Möglichkeit gemeinsamen Handelns. Territorialkonflikte konnten gemeinsam ausgefochten werden - und das bedeutete, daß alle ursprünglichen Populationen, die keine kulturelle Revolution durchgemacht hatten im Konfliktfall hoffnungslos unterlegen waren.

In gewissem Sinne war die Ehe der Neandertaler Tod.

Daß die Verdrängung der Neandertaler so lange dauerte ist nicht überraschend. Das eiszeitliche Europa liess nur eine sehr geringe Bevölkerungsdichte zu und schmälerte damit die Vorteile, die aus der neuen gesellschaftlichen Organisation gezogen werden konnten. Im Konfliktfall schmälert darüber hinaus auch ein gebirgiges Gelände den Vorteil größerer Verbände - Gebirge sind typische Rückzugsgebiete, in denen sich auch kleine Populationen unter Ausnutzung des Heimvorteils lange halten konnten. Darüber hinaus waren die Neandertaler an das Leben unter den extremen europäischen Bedingungen biologisch angepasst. Es ist daher naheliegend, daß die Neandertaler nicht gleich in einem Blitzkrieg komplett ausgerottet wurden, sondern erst aus den ergiebigsten Territorien verschwanden um dann in stark fragmentierten Rückzugsgebieten auch unter dem Einfluß von Inzucht allmählich endgültig unter zu gehen. Vermutlich wurden ohnehin nur sehr wenige Neandertaler tatsächlich von modernen Menschen getötet. Das erscheinen zahlenmäßig stark überlegener Gegner genügte in der Regel wahrscheinlich um die Neandertaler zum Rückzug zu bewegen. Die Konflikte fanden dann in erster Linie unter den Neandertalern um den verbliebenen Lebensraum statt. Die Bedeutung der Ehe für das moderne Verhalten des modernen Menschen könnte erklären, warum die genetische Verdrängung (nicht nur im Falle der Neandertaler) so gründlich ablief. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es beim Vordringen unserer Vorfahren nicht auch regelmässig zur Vermischung mit lokalen Populationen kam. Die deutlich überlegenen Invasoren werden sicher mehr als nur eine einheimische Frau geschwängert haben. Die entscheidende Frage ist jedoch, was aus den Mischlingen dann wurde. Um eine Integration solcher Kinder in die modernen Gruppenverbände zu ermöglichen hätte der Vater die Mutter zur Frau nehmen müssen. Stammesverbände achten jedoch in der Regel darauf, daß nur innerhalb des Stammes geheiratet wird - sie sind auf Stammesebene endogam. Und die deutliche organisatorische Überlegenheit der Invasoren ließ wenig Raum dafür, im Enzelfall bei der Verbindung mit einer eingeborenen Frau aus bündnistechnischen Gründen doch eine Ausnahme zu machen. Die Mischlinge blieben also unehelich und damit bestenfalls Bestandteil der verbleibenden Eingeborenenpopulationen, mit denen gemeinsam sie dann doch noch untergingen. Vermutlich wurden die Eingeborenen ohnehin als minderwertige Wilde angesehen, so daß Männer nicht den geringsten Drang verspürten eine Frau solcher Herkunft tatsächlich zu ehelichen. Ob es sich bei den eingeborenen dabei um Neandertaler, moderne Menschen oder Homo erectus - Frauen handelte, spielte eine untergeordnete Rolle.

Einen Kommentar schreiben