Konnten Neandertaler nicht werfen?

Anfang dieses Jahres ging mal wieder einiger Unsinn durch die Presse. So konnte der interessierte Leser zum Beispiel auf der Internetseite des bayerischen Rundfunks nachlesen, dass die Neandertaler vermutlich keine Chance gegen die Steine werfenden modernen Menschen gehabt hätten.

Hinter dieser Meldung verbergen sich wissenschaftliche Untersuchungen, deren Ergebnisse Jill A. Rhodes und Steven E. Churchill im Journal of Human Evolution 56 (2009) unter dem Titel “Throwing in the Middle and Upper Paleolithic: inferences from an analysis of humeral retroversion” veröffentlicht haben. Diese Untersuchungsergebnisse sollen hier nun besprochen werden, um zu zeigen, dass sie die oben zitierte Meldung keineswegs rechtfertigen.

Der wissenschaftliche Ansatz von Rhodes und Churchill stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar. Sie haben ein anatomisches Merkmal untersucht, das bei heute lebenden Menschen mit dem Werfen als Tätigkeit korreliert und ein wenig Hoffnung gibt Aussagen darüber machen zu können, ob längst verstorbene Menschen sich in dieser Tätigkeit geübt haben. Die Betonung liegt hier auf “ein wenig”, denn:

1)  Das Merkmal an sich (humeral retroversion angle) ist bei Menschen äußerst variabel und kann im Verlauf der Individualentwicklung (in der Wachstumsphase) offensichtlich durch die verschiedensten Verhaltensweisen beeinflußt werden. Das Besondere am Werfen ist die einseitige Nutzung nur eines Armes, dies führt bei Leistungssportlern dazu, daß der betrachtete Winkel beim Wurfarm noch deutlicher erhöht ist, als für den dominanten Arm ohnehin üblich. Die sich damit ergebende, ausgeprägtere Asymmetrie dieses Skelettmerkmals bei rechter und linker Schulter ist dann der eigentliche mögliche Hinweis auf regelmäßiges Werfen in der Wachstumsphase des betrachteten Individuums. 

2) Die Asymmetrie infolge des Werfens fällt nur dann auffällig hoch aus, wenn der nicht dominante Arm nicht durch andere Tätigkeiten ebenfalls stark beansprucht wird. Eine Kontrollgruppe aleutischer Inselbewohner fiel hinsichtlich der Asymmetrie keineswegs auf, obwohl bekannt war, daß diese Menschen mit Harpunen gejagt haben und sich daher in sehr hohem Maße mit dem Werfen beschäftigt haben. Die absolute Größe des betrachteten Winkels bei dieser Population des modernen Menschen fiel denn auch sehr hoch aus - für den dominanten Arm entsprach sie den Werten professioneller Handballspieler, der Sportlergruppe mit den höchsten gemessenen Winkeln. Die Aleuten-Kontrollgruppe zeigt uns also, dass mit der angewandten Methode unter günstigen Umständen zwar das Werfen belegt werden kann - nicht jedoch das Gegenteil. Ein negatives Ergebnis  (unauffällige Werte für die Asymmetrie) ist offensichtlich kein Nachweis dafür, daß nicht geworfen wurde.

3) Neandertaler haben offensichtlich von Haus aus noch höhere Werte für den betrachteten Winkel, als moderne Menschen. Wir wissen bei den Neandertalern im Gegensatz zu den Aleuten nicht, was sie mit ihrem Körper sonst noch alles angestellt haben, außer dem Werfen und welche Auswirkungen diese Tätigkeiten auf den betrachteten Winkel gehabt haben könnten. Wir können jedoch davon ausgehen, daß ihr leben noch ausgesprochen Körperbetont war (im Gegensatz zu den Kontrollgruppen moderner Zivilisationsmenschen). Außerdem ist die Zahl der Individuen, bei denen die Fossilien überhaupt eine Beurteilung der Asymmetrie zuliessen statistisch unerheblich (2 Männer und 1 Frau). Auf der Grundlage dieser Daten läßt sich bisher nur ein einziges ehrliches Urteil darüber ableiten, ob Neandertaler geworfen haben und dieses Urteil lautet “keine Ahnung”. Im Beitrag im Journal of human evolution wird dem auch durchaus Rechnung getragen: “Small sample sizes and relatively great variance in the fossil samples makes these results, however, suggestive rather than conclusive”.

Leider belassen Rhodes und Churchill es nicht bei diesem zutreffenden Urteil, sondern nehmen den Artikel zum Anlass ihre Spekulationen zu verbreiten. Schwerwiegende archäologische Belege dafür, daß bereits die Vorfahren der Neandertaler Wurfspeere bei der Jagd eingesetzt haben werden in Zweifel gezogen, weil sie nicht ins Bild passen (ich habe mir die Speere von Schöningen angesehen - es sind Wurfspeere. Und die experimentellen Untersuchungen von Hermann Rieder haben sogar gezeigt, dass sie es hinsichtlich der Flugeigenschaften mit modernen Sportgeräten aufnehmen konnten). Darauf, dass unsere Vorfahren bereits seit 2.5 Millionen Jahren Steine mit sich herum geschleppt haben, die sich hervorragend als Wurfgeschosse geeignet hätten wird mit keinem Wort eingegangen, ebenso wenig wie auf die lange Liste anatomischer Merkmale des Menschen, die als Werfer-Anpassungen interpretiert werden könnten und ebenfalls auf einen wesentlich früheren Zeithorizont für die Einführung dieser Tätigkeit verweisen.

Fazit: Churchill und Rhodes haben versucht die These zu belegen, dass Überlegenheit beim Werfen eine Rolle bei der Verdrängung der Neandertaler durch den modernen Menschen gespielt hat - es ist ihnen nicht gelungen.

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