Sexualverhalten im Entwicklungszeitraum

1. September 2009

Meine im ZdW veröffentlichten Überlegungen zum natürlichen Sexualverhalten unserer Vorfahren im biologischen Entwicklungszeitraum des Menschen sind bisher praktisch unbeachtet geblieben. Das ist um so bedauerlicher, als ich die damals üblichen Fehler der Humansoziobiologie und Evolutionspsychologie, derer man sich heute allmählich bewußt wird (siehe z.B. “Vier Trugschlüsse der populären Evolutionspsychologie” von David J. Buller im Spektrum der Wissenschaft Spezial 1/09) bereits vor 10 Jahren erkannt und zu vermeiden gesucht habe.

Meine Überlegungen gingen 1999 von der Annahme aus, dass unsere Vorfahren im Evolutionszeitraum über Fernwaffen verfügten. Diese Annahme ist durch die Speere von Schöningen zu einer Gewißheit geworden. Es wird daher höchste Zeit, dass sich betroffene Fachwissenschaftler ein paar Gedanken darüber machen, welche Konsequenzen Fernwaffen für das Sexualverhalten unserer Vorfahren gehabt haben könnten. Es geht hierbei schlicht um nicht gemachte Hausaufgaben seitens der Sexualforscher. Als Denkanstoß füge ich hier den größten Teil des bisher weitgehend unbekannt gebliebenen Kapitels aus dem “Zeitalter der Werfer” bei und hoffe, dass diese Überlegungen übers Internet etwas mehr Beachtung finden.

SWAK-Modell und Sexualverhalten

Pflege muß nicht altruistisch sein

24. August 2009

Altruistisches Verhalten soll unsere Vorfahren nun bereits vor 1,8 Millionen Jahren charakterisiert haben. Als Beleg dafür dienen die Überreste eines Greises unter den Dmanisi - Homininen, der nur noch einen Zahn hatte und vermutlich nur dank der Unterstützung seiner Gruppenangehörigen so alt geworden ist.

Ich sehe das anders.

Die Dmanisi - Homininen standen am Übergang vom Homo Habilis zum Homo erectus. Der Armed Ape Theory zufolge war dieser Übergang eine Konsequenz daraus, dass der Homo habilis in eine Aasfresser - Nische eingedrungen war und durch Verbesserung insbesondere seiner Leistungsfähigkeit beim Werfen allmählich in der Rangordnung der Carnivoren aufstieg. Dieser Aufstieg hatte eine zunehmende Meidung seitens der ehemaligen Fressfeinde und damit einen erhöhten Geburtenüberschuss zur Folge. Der höhere Geburtenüberschuss ermöglichte einerseits das Überleben ausserhalb Afrikas (daher die Funde im Kaukasus), führte aber andererseits zu verschärften Revierkonflikten. Die unter Verwendung geworfener Steine ausgetragenen Revierkonflikte trieben einerseits die Anpassungen an das gezielte Werfen weiter voran - daher die deutliche Verschiebung der Körperproportionen und das Gehirnwachstum. Andererseits führten sie regelmäßig zu Knochenbrüchen.

Die häufigen Knochenbrüche führten dann ihrerseits zu zwei Entwicklungen. Einerseits kam es zur positiven Selektion von Skelettmerkmalen, die die Bruchwahrscheinlichkeit durch geworfene Steine verringerten (Verdopplung der Schädeldicke, fliehende Stirn, Überaugenwülste, deutlich robustere Langknochen u.s.w. ). Auf diese Entwicklungen bin ich bereits im “Zeitalter der Werfer” detailliert eingegengen. Andererseits kam es aber aus genetischer Sicht zu einer Kosten/Nutzen - Verschiebung beim Pflegen von Gruppenmitgliedern. Angesichts der hohen Bedeutung von Revierkonflikten barg der Verlust eines männlichen Gruppenmitglieds hohe Risiken auch für die anderen Gruppenmitglieder. Gleichzeitig wiesen Knochenbrüche im Vergleich zu tiefen Fleischwunden wesentlich bessere Heilungschancen auf, wenn der betroffene die Zeit relativer Hilflosigkeit überstand. Hier konnte mit relativ geringem Aufwand recht zuverlässig ein verwandtes Individuum am Leben erhalten werden - allein daraus hätte sich über die Verwandtenselektion ein Beitrag zur eigenen Gesamtfitness ergeben können, der den Pflegeaufwand rechtfertigte. Gleichzeitig konnte die Kampfkraft des Gruppenverbandes relativ schnell wieder hergestellt werden, woraus sich für alle Beteiligten ein Beitrag zur eigenen Sicherheit und der Sicherheit ihrer Nachkommen ergab. Dies schlug genetisch vermutlich noch stärker positiv zu Buche. Unter diesen Umständen könnte die Pflege hilfsbedürftiger, erwachsener Gruppenmitglieder genetisch positiv selektiert worden sein. Es wäre dann eine biologische Anpassungsleistung im Gefolge der Werfer-Anpassungen gewesen - aber kein Fall von genetischem Altruismus.

Mit dem Aufkommen altruistischen Verhaltens ist im Rahmen der ArmAT dennoch zu rechnen - spätestens seit dem Übergang zum modernen Verhalten des modernen Menschen.

Werkzeugherstellung und Jagd

24. August 2009

Im ZdW wurden die Werkzeugherstellung und die Jagd als mögliche Ursachen für die Vergrößerung des Gehirns im Verlauf der menschlichen Evolution in aller Deutlichkeit zurückgewiesen. Dies hatte zur Folge, dass die Armed Ape Theory durch die wohl spektakulärste Entdeckung der vergangenen Dekade nicht im geringsten in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der in Indonesien entdeckte Hobbit (Homo floresiensis) war ein Werkzeuge herstellender Großwildjäger und zeigt, daß ein schimpansengroßes Gehirn für diese Tätigkeiten ausreicht - aus Sicht der Armed Ape Theory ist dieser Befund keineswegs überraschend. Allerdings ist das letzte Wort zur Gehirngröße dieser Spezies so lange nicht gesprochen, bis ein männliches Gehirn vermessen worden ist. Ich könnte mir vorstellen, dass es beim Homo floresiensis in dieser Hinsicht einen recht ausgeprägten Sexualdimorphismus gab. Ich weiß, dass diese Erörterungen nicht politisch korrekt sind - aber vermutlich waren die Homo floresiensis - Männer die Großwildjäger und Werkzeughersteller und so wird ein männlicher Schädel benötigt um letzte Klarheit darüber zu erhalten, wieviel Gehirn man für diese Tätigkeiten tatsächlich braucht.

Funde wie der Homo floresiensis und die Dmanissi - Homininen sind Meilensteine der Erforschung unserer Evolution. Sie haben dafür gesorgt, dass falsche Vorstellungen im Verlauf der vergangenen 10 Jahre Reihenweise zurückgenommen werden mußten. Es ist sehr bemerkenswert, dass mein 1999 veröffentlichtes Modell durch diese Funde nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde, obwohl ich zu den betroffenen Themengebieten in aller Deutlichkeit Stellung genommen habe. Dass das Modell diese für viele andere Gedankengebäude verhängnisvoll gewordenen Klippen mühelos umschifft hat, ist einer der Gründe dafür, dass ich für dieses Modell inzwischen den Rang einer wissenschaftlichen Theorie beanspruche.

Die Schöninger Speere und ihre Konsequenzen für das Verständnis der menschlichen Evolution

21. August 2009

Bei den Schöninger Speeren handelt es sich um hervorragende Wurfspeere, die mehr als 300 000 Jahre alt sind. Bei der Arbeit am ZdW sind diese Speere noch nicht berücksichtigt worden. Sie belegen daher unabhängig von der von mir damals ins Feld geführten Argumentationskette, dass der menschliche Körperbau beim Übergang zum Homo erectus für das Werfen optimiert worden ist.

Von archeologischen Funden, die gerade mal 300 bis 400 Tausend Jahre alt sind darauf zu schließen, was vor rund 1,8 Millionen Jahren geschah mag auf den ersten Blick als nicht gerechtfertigt erscheinen. Dennoch ist der Befund eindeutig. Dies liegt daran, dass der menschliche Körperbau einerseits in den letzten 1.8 Millionen Jahren im wesentlichen unverändert geblieben ist und dass Wurfleistungen andererseits in hohem Maße von den Körperproportionen abhängen (siehe ZdW).

Nehmen wir einmal an, die Hersteller der Schöninger Speere wären die ersten Werfer gewesen. Das Werfen hätte in diesem Fall eine Innovation dargestellt, die von da an einen enormen Einfluß auf das Verhalten und den Fortpflanzungserfolg entfaltet hätte. In diesem Fall hätten immer noch mindestens 300 000 Jahre zur Verfügung gestanden um den menschlichen Körperbau für diese Tätigkeit zu verbessern. Körperproportionen sind recht variabel, so dass positive Selektion besserer Werfer innerhalb weniger Jahrtausende zu deutlichen Proportionsverschiebungen hätte führen müssen. Nichts dergleichen ist vor 300 000 Jahren oder überhaupt im Verlauf der letzten 1.8 Millionen Jahre geschehen. Die Annahme, dass die Hersteller der Schöninger Speere die ersten Werfer waren ist also falsch. Dass der menschliche Körperbau angesichts nachgewiesener, mindestens 300 000 Jahre alter Werfertradition gar nicht für das Werfen optimiert wurde ist ebenso unglaubwürdig. Die einzige logische Erklärung besteht darin, dass die Optimierung noch früher statt gefunden hat und verweist direkt auf die körperlichen Umstellungen beim Übergang zum Homo erectus. Diesen habe ich bereits im ZdW aufgrund seiner körperlichen Merkmale als “Kronzeugen” der Werfer-Hypothese bezeichnet. Durch die Speere von Schöningen werden meine Interpretationen von 1999 massiv gestützt.

“The ontogeny of throwing and striking” von Richard W. Young

5. August 2009

Dieser Übersichtsartikel erschien in Human Ontogenetics 3(1), 2009.

Ziel dieses sehr informativen und lesenswerten Artikels war die Klärung der Frage, ob es sich beim Werfen (und der anatomisch verwandten Tätigkeit des Keulenschwingens) um eine angeborene, oder aber um eine kulturell überlieferte, erlernte Tätigkeit handelt. Verglichen wurde die Entwicklung der entsprechenden Fähigkeiten bei Heranwachsenden beiden Geschlechts in verschiedenem kulturellen Umfeld. Das Ergebnis fällt eindeutig aus und errinnert mich an eine Sprachregelung bei den Sprachforschern. Es hat sich hier eingebürgert von einem “instinct to learn” bei der Sprachentwicklung zu sprechen. Während sich jedoch in der Sprachentwicklung die Kinder an ihrem sozialen Umfeld orientieren, um die hier aktuelle Sprache zu erlernen, erlernen Kinder überall auf der Welt, die sich im Werfen üben immer den gleichen, hochkomplizierten Bewegungsablauf und folgen dabei offensichtlich immer dem gleichen “Entwicklungsprogramm” das letztendlich genau zu dem Bewegungsablauf führt, den Spitzenathleten rund um die Welt auch nutzen. Tradierte Informationen scheinen kaum eine Rolle zu spielen. Genetische Vorgaben und Übung machen hier den Meister.

Jungs durchlaufen diesen Entwicklungsprozess schneller als Mädchen - auch dann wenn in beiden Fällen ausgesprochen viel geübt wird (dies ist eher die Ausnahme, da Mädchen in der Regel weniger werfen). Mangelnde Übung im Kindesalter führt dazu, daß dieser angeborene Entwicklungsprozess “steckenbleibt”. In unserer Zeit ist dies die Regel (Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Vertreter der deutschen Speerwerfer-Nationalmannschaft anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung zum Thema Werfen, die Hermann Rieder organisiert hatte. Dieser Sportler berichtete mir von einer Exkursion - ich glaube nach Neuguinea - bei der er etwa sechsjährige Kinder bei Wurfspielen beobachtet hatte. Diese Kinder legten nach seinem Urteil einen perfekten Bewegungsablauf an den Tag, während viele hoffnungsvolle Nachwuchssportler in Deutschland in einem Alter von etwa 12-14 Jahren genau dabei an ihre Grenzen stoßen.).

Was bedeuten diese Beobachtungen für das Verständnis der menschlichen Evolution? Da wir es wieder mit Beobachtungen an modernen Menschen zu tun haben, erlauben sie uns lediglich einen Blick bis zu der afrikanischen Ursprungspopulation aus der wir alle hervorgegangen sind. Diese Menschen vor ca. 70 000 Jahren waren mit Sicherheit spezialisierte Werfer - das Werfen war ebenso wie der aufrechte Gang und die Sprache Teil ihrer biologischen Ausstattung und verdient es zweifellos mit ähnlichem Aufwand untersucht zu werden.  

Noch einmal zum Mitschreiben: Das Werfen ist beim Menschen nicht nur eine von vielen Tätigkeiten, sondern eine biologische Anpassungsleistung!

Wann und warum es zu Werfer-Anpassungen gekommen ist, können wir durch Untersuchungen der Ontogenese nicht ermitteln. Ebenso wenig läßt sich daraus ableiten, ob Neandertaler werfen konnten. Da das Werfen beim Menschen jedoch eine ausgesprochene Ganzkörpertätigkeit ist und sehr hohe Anforderungen an den Körperbau stellt, bestehen hervorragende Aussichten von der durch Fossilien dokumentierten anatomischen Entwicklung auf den jeweiligen Stand der Werfer-Anpassungen schließen zu können. Das Werfen bietet grundsätzlich wesentlich bessere Voraussetzungen dafür den zeitlichen Verlauf der Entwicklung dieser Anpassungsleistung zu rekonstruieren als der aufrechte Gang und erst recht als die Sprache. Die entscheidende Frage ist wohl, ob genügend Paläoanthropologen Lust, Zeit und Forschungsmittel haben  um dieser Frage nachzugehen. Eins ist klar: die Erforschung des Werfens ist wesentlich anspruchsvoller als die Erforschung des aufrechten Ganges und sie wird sich nicht auf anatomische Fragestellungen beschränken, sondern tief in den Bereich der Gehirnentwicklung hinein führen.

Throwing and bipedalism: a new look at an old idea

5. August 2009

Dieser kleine Artikel gibt den Inhalt eines Beitrags wieder, der bei der 13 internationalen Senckenbergkonferenz im Oktober 1999 gehalten wurde. Autoren des Beitrags waren Holly Dunsworth, John H. Challis und Alan Walker. Inzwischen ist der Beitrag auch im Internet zu finden.

Dieser Beitrag war insofern hilfreich, als er einige deutsche Wissenschaftler (z.B. Holger Preuschoft und Friedemann Schrenk) für das Thema just zu dem Zeitpunkt sensibilisierte, als ich im Begriff stand, mein Buch zu veröffentlichen (Alan Walker genießt ja beträchtliches Ansehen). Ich hatte das Glück, dass die Autoren auf der Grundlage völlig unzureichender Wurfsimulationen und einiger darauf basierenden, falschen Überlegungen zu Aussagen gelangten, die sich mit meinen einigermassen deckten. Ebenso wie ich gelangten sie zu der Aussage, dass Werfen bereits bei den Australopithecinen eine Rolle gespielt haben könnte und dass beim Übergang zum Homo erectus Verbesserungen der Werfer-Fähigkeiten eine Rolle gespielt haben könnten (im Detail unterscheiden sich unsere Aussagen allerdings beträchtlich).

Bei mir hat dieser Beitrag damals den Verdacht aufkommen lassen, dass die weitreichende Ignoranz der Paläoanthropologen gegenüber dem gezielten Wurf als zentraler menschlichen Anpassungsleistung vor allem darauf zurückzuführen ist, dass sie der Untersuchung dieses Forschungsgegenstandes fachlich schlicht nicht gewachsen sind. Die Wurfbewegung ist sehr komplex. Und beim Werfen stehen nicht Kräfte im Vordergrund, mit denen man in einer anatomischen Ausbildung umzugehen lernt, sondern zu einer komplexen Bewegung zusammengesetzte Rotationen und die assoziierten Dreh- und Trägheitsmomente. Eine derartige Bewegung halbwegs realistisch zu simulieren sollte heute durchaus möglich sein. Dazu müßte man jedoch eine Arbeitgruppe zusammenstellen zu der neben Anatomen auch Spezialisten auf dem Gebiet der Mehrkörpersimulation gehören sollten, wie man sie z.B. im Bereich der Luft- und Raumfahrttechnik findet.

In dem betrachteten Beitrag wurden lediglich zwei Bewegungselemente für die Simulation der Wurfbewegung genutzt: Die Bewegung des Unterarms und die Bewegung der Hand. Unter Berücksichtigung der Bewegung des Oberarmes wäre man zu völlig anderen Ergebnissen gelangt. Da der Einsatz des Oberarms beim Werfen bereits im Bereich der Möglichkeiten eines Schimpansen liegt, ist eine Betrachtung der Wurfbewegung bei Australopithecinen ohne Berücksichtigung dieses Bewegungselements völlig wertlos. William Calvin hat seinerzeit bei der Betrachtung des Zeitfensters (unter anderem) den gleichen Fehler gemacht, ich bin darauf im ZdW detailliert eingegangen. Experimentelle Untersuchungen von Jonathan Hore et al haben bestätigt, dass Calvins Abschätzung falsch war.

“Throwing and human evolution” von Barbara Isaac

4. August 2009

Ein Artikel im “The African archaeological Review” von 1987, der wunderbar zu meiner Theorie passt und viele interessante Fakten enthält. Leider war er mir bei der Arbeit am Zeitalter der Werfer (ZdW) noch nicht bekannt. Ich hätte gerne daraus zitiert.

Die evolutionstheoretische Beweiskraft der von Barbara Isaac zusammengetragenen Beobachtungen an modernen Menschen ist allerdings eher gering. Seit wir wissen, daß alle rezenten Menschen von einer kleinen Ursprungspopulation in Afrika vor ca. 70 000 Jahren abstammen ist klar, dass Untersuchungen des Verhaltens von Naturvölkern keinen direkten Einblick in das Leben unserer Vorfahren im eigentlichen biologischen Entwicklungszeitraum bieten (für die Gehirnentwicklung wäre z.B. der Zeitraum zwischen 2,5 und 0,1 Millionen Jahren interessant). Aus diesem Grund habe ich auch gar nicht erst versucht derartige Belege für das ZdW zu sammeln. Ich habe im Gegenteil die althergebrachte Vorgehensweise kritisiert Theorien dadurch zu “belegen”, daß man aus dem sehr vielseitigen Verhalten moderner Menschen die passenden Aspekte “herauspickt”. Diese Vorgehensweise stellt meines Erachtens einen der beiden systematischen Fehler bei der Theoriebildung dar, die bisher ein echtes Verständnis der menschlichen Evolution zuverläßig verhindert haben. Auch Barbara Isaac hat über weite Strecken ihres Artikels diese Methode genutzt.

Obwohl die vorgetragenen Argumente nur geringe Beweiskraft besitzen, sind sie doch sehr hilfreich zur Illustration und Abrundung der Armed Ape Theory. Während es nicht möglich ist aus vergeichenden Beobachtungen an rezenten Menschen abzuleiten, welche Verhaltensmerkmale eine entscheidende Rolle bei der Evolution gespielt haben, wäre es doch sehr überraschend, wenn diese entscheidenden Verhaltensmerkmale sich nicht mehr nachweisen liessen. Hinweise auf die enorme Leistungsfähigkeit verschiedener Populationen beim Werfen und auf die effektive Nutzung von geworfenen Steinen in Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen, wie Barbara Isaac sie in diesem Artikel gesammelt hat, stellen keine hinreichende, theoretische Basis für die Errichtung der Armed Ape Theory dar. Es sind jedoch notwendige Belege, wenn die Theorie glaubwürdig sein soll.

Zweifellos hat Barbara Isaac auch recht mit ihrer Einschätzung, dass die Erforschung der menschlichen Anpassungen an gezieltes Werfen darunter leidet, dass moderne Forscher in der Regel keine klare Vorstellung von dem Leistungspotential des Menschen auf diesem Gebiet haben. Wissenschaftler, die von gefangenen Menschenaffen mit Kot beworfen worden sind, tendieren dazu die Leistungsfähigkeit ihrer Schützlinge beim Werfen sehr hoch zu veranschlagen. Was uns fehlt, sind ein paar Wissenschaftler, die vom Homo erectus mit Steinen beworfen wurden (und es überlebt haben). Ein Paläoanthropologe mit einer derartigen Erfahrung würde ganz genau wissen, wo er nach typisch menschlichen Anpassungsleistungen suchen sollte. in dieser Hinsicht stellen die von Barbara Isaac zusammengestellten Erfahrungsberichte zweifellos einen Schritt in die richtige Richtung dar und sind unbedingt einer Lektüre wert.

Konnten Neandertaler nicht werfen?

3. August 2009

Anfang dieses Jahres ging mal wieder einiger Unsinn durch die Presse. So konnte der interessierte Leser zum Beispiel auf der Internetseite des bayerischen Rundfunks nachlesen, dass die Neandertaler vermutlich keine Chance gegen die Steine werfenden modernen Menschen gehabt hätten.

Hinter dieser Meldung verbergen sich wissenschaftliche Untersuchungen, deren Ergebnisse Jill A. Rhodes und Steven E. Churchill im Journal of Human Evolution 56 (2009) unter dem Titel “Throwing in the Middle and Upper Paleolithic: inferences from an analysis of humeral retroversion” veröffentlicht haben. Diese Untersuchungsergebnisse sollen hier nun besprochen werden, um zu zeigen, dass sie die oben zitierte Meldung keineswegs rechtfertigen.

Der wissenschaftliche Ansatz von Rhodes und Churchill stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar. Sie haben ein anatomisches Merkmal untersucht, das bei heute lebenden Menschen mit dem Werfen als Tätigkeit korreliert und ein wenig Hoffnung gibt Aussagen darüber machen zu können, ob längst verstorbene Menschen sich in dieser Tätigkeit geübt haben. Die Betonung liegt hier auf “ein wenig”, denn:

1)  Das Merkmal an sich (humeral retroversion angle) ist bei Menschen äußerst variabel und kann im Verlauf der Individualentwicklung (in der Wachstumsphase) offensichtlich durch die verschiedensten Verhaltensweisen beeinflußt werden. Das Besondere am Werfen ist die einseitige Nutzung nur eines Armes, dies führt bei Leistungssportlern dazu, daß der betrachtete Winkel beim Wurfarm noch deutlicher erhöht ist, als für den dominanten Arm ohnehin üblich. Die sich damit ergebende, ausgeprägtere Asymmetrie dieses Skelettmerkmals bei rechter und linker Schulter ist dann der eigentliche mögliche Hinweis auf regelmäßiges Werfen in der Wachstumsphase des betrachteten Individuums. 

2) Die Asymmetrie infolge des Werfens fällt nur dann auffällig hoch aus, wenn der nicht dominante Arm nicht durch andere Tätigkeiten ebenfalls stark beansprucht wird. Eine Kontrollgruppe aleutischer Inselbewohner fiel hinsichtlich der Asymmetrie keineswegs auf, obwohl bekannt war, daß diese Menschen mit Harpunen gejagt haben und sich daher in sehr hohem Maße mit dem Werfen beschäftigt haben. Die absolute Größe des betrachteten Winkels bei dieser Population des modernen Menschen fiel denn auch sehr hoch aus - für den dominanten Arm entsprach sie den Werten professioneller Handballspieler, der Sportlergruppe mit den höchsten gemessenen Winkeln. Die Aleuten-Kontrollgruppe zeigt uns also, dass mit der angewandten Methode unter günstigen Umständen zwar das Werfen belegt werden kann - nicht jedoch das Gegenteil. Ein negatives Ergebnis  (unauffällige Werte für die Asymmetrie) ist offensichtlich kein Nachweis dafür, daß nicht geworfen wurde.

3) Neandertaler haben offensichtlich von Haus aus noch höhere Werte für den betrachteten Winkel, als moderne Menschen. Wir wissen bei den Neandertalern im Gegensatz zu den Aleuten nicht, was sie mit ihrem Körper sonst noch alles angestellt haben, außer dem Werfen und welche Auswirkungen diese Tätigkeiten auf den betrachteten Winkel gehabt haben könnten. Wir können jedoch davon ausgehen, daß ihr leben noch ausgesprochen Körperbetont war (im Gegensatz zu den Kontrollgruppen moderner Zivilisationsmenschen). Außerdem ist die Zahl der Individuen, bei denen die Fossilien überhaupt eine Beurteilung der Asymmetrie zuliessen statistisch unerheblich (2 Männer und 1 Frau). Auf der Grundlage dieser Daten läßt sich bisher nur ein einziges ehrliches Urteil darüber ableiten, ob Neandertaler geworfen haben und dieses Urteil lautet “keine Ahnung”. Im Beitrag im Journal of human evolution wird dem auch durchaus Rechnung getragen: “Small sample sizes and relatively great variance in the fossil samples makes these results, however, suggestive rather than conclusive”.

Leider belassen Rhodes und Churchill es nicht bei diesem zutreffenden Urteil, sondern nehmen den Artikel zum Anlass ihre Spekulationen zu verbreiten. Schwerwiegende archäologische Belege dafür, daß bereits die Vorfahren der Neandertaler Wurfspeere bei der Jagd eingesetzt haben werden in Zweifel gezogen, weil sie nicht ins Bild passen (ich habe mir die Speere von Schöningen angesehen - es sind Wurfspeere. Und die experimentellen Untersuchungen von Hermann Rieder haben sogar gezeigt, dass sie es hinsichtlich der Flugeigenschaften mit modernen Sportgeräten aufnehmen konnten). Darauf, dass unsere Vorfahren bereits seit 2.5 Millionen Jahren Steine mit sich herum geschleppt haben, die sich hervorragend als Wurfgeschosse geeignet hätten wird mit keinem Wort eingegangen, ebenso wenig wie auf die lange Liste anatomischer Merkmale des Menschen, die als Werfer-Anpassungen interpretiert werden könnten und ebenfalls auf einen wesentlich früheren Zeithorizont für die Einführung dieser Tätigkeit verweisen.

Fazit: Churchill und Rhodes haben versucht die These zu belegen, dass Überlegenheit beim Werfen eine Rolle bei der Verdrängung der Neandertaler durch den modernen Menschen gespielt hat - es ist ihnen nicht gelungen.

Robert Bigelow’s “Und willst du nicht mein Bruder sein…”

13. Juli 2009

bigelow011Dieses Buch erschien 1969 unter seinem englischen Originaltitel “The Dawn Warriors - Man’s Evolution toward peace”. Auf dem Deutschen Schutzumschlag wird der Anthropologe Carleton S. Coon mit seinem Urteil zitiert es sei “Die erste umfassende und in sich plausible Evolutionstheorie seit Darwin”.

Aus der Sicht der Armed Ape Theory ist die Lektüre dieses Buches vor allem empfehlenswert, um einen Eindruck davon zu erhalten wie viele “Belege” für meine Theorie ich 1999 im “Zeitalter der Werfer” (=Z.d.W) habe links liegen lassen, weil sie meinen Anforderungen nicht entsprachen. Aus meiner Sicht leidet Robert Bigelow’s Vorstoß unter dem klassischen Fehler, Aspekte des menschlichen Verhaltens herauszupicken, um darauf ein Evolutionsszenario aufzubauen. Dass er dabei der Wahrheit wohl näher gekommen ist als andere, verdankt er eher dem Zufall als der Stärke seines Ansatzes. Im Gegensatz zu zeitgenössischen Wissenschaftlern kann man zu Bigelows Entschuldigung allerdings noch anführen, dass er nicht wissen konnte, dass alle Menschen, die heute auf der Welt leben vor relativ kurzer Zeit aus einer kleinen afrikanischen Population hervorgegangen sind (aus diesem Umstand folgt die weitgehende Nutzlosigkeit vergleichender Verhaltensforschung an menschlichen Populationen für die Entwicklung von Evolutionsszenarien, die sich z.B. mit der Gehirnexpansion befassen, siehe dazu das Z.d.W.).

Seine Überlegungen zur Gehirnentwicklung waren trotzdem auch 1969 nicht wirklich plausibel. Es macht nicht wirklich Sinn einerseits zu unterstellen, dass das Zusammenwirken in grossen Gruppenverbänden zur Entwicklung großer Gehirne geführt habe und gleichzeitig aufzuzeigen, dass menschliche Gruppenverbände, deren Größe deutlich über den Verhältnissen bei anderen Primaten lagen erst in geschichtlicher Zeit - also nach der Gehirnexpansion - entstanden sind. Unnötig und inhaltlich auch falsch sind wohl Bigelows Vorstösse gegen Darwin und die Befürwortung der Gruppenselektion. Im Z.d.W. habe ich den Standpunkt vertreten, dass das, was beim menschlichen Verhalten nach Gruppenselektion aussieht im wesentlichen auf “memetischer Verwandtenselektion” beruht. Es handelt sich also um Phänomene, die in den Zuständigkeitsbereich der kulturellen Evolution fallen. Falsch dürfte auch die Vorstellung sein, dass bereits bei den Australopithecinen die Kriegführung eine wichtige Rolle bei der Evolution gespielt hat.

Sehr bemerkenswert sind dagegen Bigelow’s Überlegungen zum Verhalten von Schimpansen. Diese galten 1969 als ausgesprochen friedliebend und nicht territorial. Erste Freilandbeobachtungen schienen dies zu bestätigen und unterstützten romantische Vorstellungen von der im Grunde friedlichen Natur des Menschen. Bigelow interpretierte die Beobachtungen anders. Er vermutete, dass die beobachteten, friedlichen Interaktionen unter Gruppenmitgliedern stattgefunden hatten, die zur Nahrungssuche eigene Wege gingen, aber intelligent genug waren die Gruppenmitglieder zu kennen, auch wenn sie nicht die meiste Zeit gemeinsam verbrachten. Für Begegnungen von fremden Schimpansen sagte er - in deutlichem Widerspruch zum wissenschaftlichen Mainstream - Feindseligkieten voraus. Nur drei Jahre später setzten bei den am Gombe beobachteten Schimpansen Konflikte ein, durch die er vollauf bestätigt wurde. Heute wissen wir, daß Revierkonflikte unter gewöhnlichen Schimpansen unter allen Primaten die größten Ähnlichkeiten zur menschlichen Kriegsführung aufweisen.

Auf zwei Parallelen in den Überlegungen von Bigelow und mir möchte ich noch hinweisen. Zum einen hat bereits Bigelow angenommen, dass lokale Entwicklungszentren (heiße Zentren) für den Verlauf der menschlichen Evolution eine große Rolle gespielt haben - meine Überlegungen im Z.d.W. verliefen hier völlig analog. Die schnellsten Fortschritte machte die menschliche Evolution nach unseren Vorstellungen nicht da, wo die Umweltanforderungen am anspruchsvollsten waren, sondern da, wo es den Menschen am besten ging, sie infolgedessen die höchsten Reproduktionsüberschüsse aufwiesen, die wiederum zu den stärksten Revierkonflikten führten. In diesem Sachverhalt sah ich die Erklärung dafür, dass Expansionswellen wiederholt von der ursprünglichen, afrikanischen Heimat des Menschen ausgingen. Die zweite Parallele betrifft unseren gemeinsamen Optimismus hinsichtlich der menschlichen Zukunftsperspektiven. Ebenso wie ich 30 Jahre später leitete Bigelow aus der zentralen Bedeutung kriegerischer Auseinandersetzungen für den Verlauf der menschlichen Evolution ab, dass eine Zukunft ohne Krieg im Prinzip möglich ist.

Hallo Leute!

19. Mai 2009

Dieses Weblog soll mir (Eduard Kirschmann) in den nächsten Monaten dazu dienen nach und nach im Rahmen von Einzelbeiträgen eine Zwischenbilanz der von mir 1999 veröffentlichten Theorie der Menschwerdung zu ziehen. Ausserdem soll die Theorie hier auch Schritt für Schritt aktualisiert werden.

Der erste Schritt zur Aktualisierung ist die Bezeichnung “Theorie” selbst und der neue Name “Armed Ape Theory of Human Evolution“.

Bei der Veröffentlichung im Dezember 1999 entschied ich mich noch für die Bezeichnung “Modell”. Das Buch hieß “DAS ZEITALTER DER WERFER - eine neue Sicht des Menschen” und hatte den Untertitel “Das Schimpansen-Werfer-Aasfresser-Krieger-Modell der menschlichen Evolution”.

Der Wechsel vom “Werfer” zum “Armed Ape” hängt in erster Linie mit Richard Youngs Interpretation des menschlichen Handgriffs zusammen. Er hat den menschlichen Präzisionsgriff als Werfer-Griff interpretiert, den ebenso typischen, menschlichen Kraftgriff jedoch als “clubbing-grip”, was soviel heißt wie Knüppel- oder Keulengriff (Young, R.W. 2003. Evolution of the human hand: the role of throwing and clubbing. J. Anat 202: 165 - 174).

Ich hatte im “Zeitalter der Werfer” durchaus erwogen, daß unsere Vorfahren neben geworfenen Steinen auch Stöcke als Waffen verwendet haben sollten - dies legen auch Beobachtungen an Schimpansen nahe. Richard Young hat klar gestellt, dass die von mir angeführten Anpassungen an das Werfen allein nicht genügen, um die Entwicklung des Handgriffs zu erklären und für dieses Problem gleichzeitig eine Lösung vorgeschlagen, die sehr gut in das von mir entwickelte Szenario passt.

Der Wechsel vom “Modell” zur “Theorie” hängt damit zusammen, dass die Korrektur bezüglich des Handgriffs auch noch knapp 10 Jahre nach der Veröffentlichung meines Szenarios die wichtigste notwendige Korrektur ist. Im Großen und Ganzen hat sich das Szenario - bei schwierigem Umfeld - überraschend gut gehalten, es ist daher inzwischen mehr als nur ein Modell - ich beanspruche dafür nun den Titel einer wissenschaftlichen Theorie der Menschwerdung.